Dietmar Keller

In den Mühlen der Ebene

Unzeitgemäße Erinnerungen

  • Veröffentlichung: 3. November 2011
  • Seiten: 256
  • ISBN: 978-3-320-02270-9

24,90

Dietmar Keller, Jahrgang 1942, gehörte zu den wenigen SED-Politikern, die ernsthaft eine Öffnung der DDR zur Demokratie verfolgten. Während des Krieges in einer proletarischen Familie geboren, erlebte er 1945 die Zerstörung seiner Heimatstadt Chemnitz, seine Kindheit war von den schwierigen Nachkriegsjahren geprägt. Nach dem Abitur, schon als Schüler arbeitete er als Sportreporter, meldete er sich zum Armeedienst. Da seine Immatrikulation für das Journalistikstudium in Leipzig suspendiert wurde, studierte er Geschichte und machte schon als junger Wissenschaftler mit erfolgreichen Publikationen zur Zeitgeschichte auf sich aufmerksam.
Nach der Promotion wurde er in die SED-Kreisleitung der Karl-Marx-Universität Leipzig gewählt – von dort begann sein hauptamtlicher politischer Weg, der ihn bis zum Staatssekretär für Kultur und schließlich in der Modrow-Regierung zum Kulturminister führte.

Dietmar Keller galt unter Künstlern und anderen Intellektuellen schon Ende der 1970er-Jahre als Hoffnungsträger für eine demokratisierte DDR – was auch der Staatssicherheit nicht entging. In und nach der friedlichen Revolution zählte Keller in der PDS zu den wenigen profilierten Politikern, die sich uneingeschränkt für den Bruch mit dem Stalinismus und einer radikalen Erneuerung der Partei einsetzten, letztlich aber scheitern musste.

Inhaltverzeichnis

Die Russen kommen
Wer aber war Lessing?
Engels, Marx oder Hartmann?
Die ‘Fahne’ ruft
Meine Universität
Zwischen Universität und Parteiapparat
Mein Leipzig lob ich mir
Moskau – meine zweite Universität
In Berlin läuft die Uhr anders
Glanz und Elend eines Ministers
Gewählt ist gewählt
In Bonn ticken die Uhren noch anders
Als Berater verraten und verkauft
Epilog

Personenverzeichnis

Textproben

»In Vorbereitung auf meinen künftigen Arbeitsplatz fuhr ich zu einem Gespräch mit dem Minister für Kultur Hans-Joachim Hoffmann nach Berlin.
Erst am Ende des Gesprächs wurde mir klar, warum Hoffmann mauerte, er hielt mich in Leipzig für wichtiger als in Berlin und wusste, dass man als selbstständiger Kopf in der Zentrale schnell verheizt wurde. Drei Hinweise gab er mir mit auf meinen Weg. Erstens: In Leipzig konntest du im Prinzip fast alles entscheiden, was du für richtig hieltest, und du musstest zum Schluss kaum dafür die Verantwortung übernehmen, in Berlin kannst du nichts mehr entscheiden, bist aber für alles verantwortlich. Zweitens: In Berlin wird scharf geschossen, die Kugeln treffen dich in der Regel im Rücken, wenn du noch Zeit hast, dich umzudrehen, lächeln dich alle unschuldig und freundlich und bedauernd an. Drittens: Das Telefon in deinem Arbeitszimmer dient deiner Sekretärin, oder, wenn du deiner Frau mitteilen musst, dass es wie üblich später wird. Die persönlichen Gespräche mit Künstlerinnen und Künstlern solltest du in der Regel beim Spazierengehen führen, die frische Luft tut allen Beteiligten gut. Und vergiss nie: Ich kann dir nur helfen, wenn du mir blind vertraust und mich über alles Wichtige beizeiten informierst.
So begann ich in Berlin meine Arbeit, die mir trotz der vielen Vorwarnungen zunächst viel Spaß bereiten sollte, mich aber zugleich nach und nach verdammt dünnhäutig machte.«

»Mein Verhältnis zur DDR und zur SED war und ist völlig unsentimental. Mit Freude, Bereitschaft und aufklärerischem Willen habe ich in der DDR gelebt, ihr gedient und bin in die SED als ihrer größten politischen Organisation eingetreten. Zu sagen, es muss sich etwas ändern, ändert noch gar nichts. Hinter den Gardinen die Faust zu ballen und mit erhobenem Zeigefinger zu drohen, ist keine Heldentat. Sich einzubringen und zu versuchen, unter schwierigen Umständen zu verändern, war nötig. Dem habe ich mich, so glaube ich jedenfalls, solange das Land existierte, gestellt. Lange habe ich allerdings den Mechanismus des Machtapparates einer allein herrschenden Partei nicht richtig begriffen.
Letzten Endes wollte ich Ideale durchsetzen, die dieses System zwar postuliert hatte, die jedoch mit ihm unvereinbar waren. Das zu spät begriffen zu haben, war mein Fehler. So wurde ich als Verfechter humanistischer und emanzipatorischer Ideale selbst zum Träger dieses Systems. Dafür hatte ich meinen Preis zu zahlen, und ich habe ihn bezahlt.«