Die »blauen Bände« sind legendär. Wer sich etwas intensiver mit Marx und Engels beschäftigt, kennt sie, die Marx-Engels-Werke (MEW) aus dem Dietz Verlag. Sie sind eine Institution mit ambivalenter Geschichte. Dabei ist ihre jüngere Entwicklung kaum bekannt. Gerne wird die MEW der DDR und der SED zugeschlagen und fand demnach mit dem Band 43 aus dem Jahr 1990 ihr Ende. Ein Fall fürs Museum also. Die Geschichte der MEW ging und geht jedoch weiter, heute unter der Herausgeberschaft der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Werkausgabe ist weder abgeschlossen – Band 44 erschien im Jahr 2018 und Band 45 ist in Arbeit – noch ist sie einfach antiquiert. Ganz im Gegenteil.
Geschichte und Charakter der MEW
Die MEW sind eine Studienausgabe. Der ursprünglichen Konzeption zufolge sollen wesentlich abgeschlossene Werke und Artikel aufgenommen werden, die zu Lebzeiten von Marx und Engels erschienen sind, zuzüglich einer Auswahl aus dem handschriftlichen Nachlass. Für Briefe (und Briefentwürfe) gilt die Maxime, alle zu versammeln, die aus der Feder von Marx und Engels selbst stammen.
Für die MEW werden die Textfassungen der letzten Auflage editiert, mitunter sind handschriftliche Hinweise, Korrekturen oder Veränderungen in von beiden autorisierten Übersetzungen berücksichtigt. Manuskripte, die zu diesen Texten führten, sind nicht aufgenommen, auch wird auf die Dokumentation der Veränderungen zwischen diversen Auflagen verzichtet.
Fremdsprache Zitate sind übersetzt, Fremdwörter werden erklärt und die Bände sind um einen Anmerkungsapparat ergänzt, der ein Namensverzeichnis und ein Sachregister sowie eine Chronik des Lebens und Wirkens von Marx und Engels umfasst. Die Edition der MEW ist auf eine breitere Leserschaft hin ausgerichtet. Die Lektüre der Bände soll möglichst erleichtert werden, und die Bücher nicht zuletzt bezahlbar sein.
Die MEW umfassen etwa 1700 Schriften (darunter viele bis dahin nicht bekannte bzw. unveröffentlichte Arbeiten) und 4170 Briefe (inklusive erstmalig alle bis dato ermittelten Briefen von Marx und Engels an dritte Personen, wovon etwa ein Drittel erstmals ins Deutsche übertragen sind). In Band 45 der MEW werden alle nach 1967 aufgefunden Briefe veröffentlicht, das sind über 220 von Marx und Engels. Damit sind die MEW noch immer die Ausgabe, die die meisten Briefe von Marx und Engels gesammelt zugänglich macht.
Die Gliederung der MEW
Die Bände 1 bis 22 enthalten die Schriften und Artikel von 1839 bis 1895, die Bände 23 bis 26 umfassen das Hauptwerk von Marx’ »Das Kapital« einschließlich der »Theorien über den Mehrwert«. Die Bände 27 bis 39 versammeln die von Marx und Engels zwischen 1843 und 1895 geschriebenen Briefe. Diese 39 Bände waren ursprünglich geplant und wurden beginnend mit Band 40 ergänzt durch die Herausgabe weiterer Bände. Die deutschsprachige Werkausgabe hinkt jedoch der englisch- oder auch russischsprachigen hinterher. Beide umfassen 50 Textbände.
Doch warum wurden die ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 erst 1968 in Band 40 und die »Grundrisse« in Band 42 im Jahr 1983 veröffentlicht? Die Manuskripte von 1844, die im Kanon des damals herrschenden Marxismus-Leninismus einem noch »unreifen Marx« zugerechnet wurden, sind nicht in Band 1 der Werkausgabe aufgenommen worden, bei den »Grundrissen« sollte ein 1953 im Dietz Verlag erschienener fotomechanischer Nachdruck eine Ausgabe von 1939–1941, der nicht Teil der MEW war, ersetzen – auf dem Stand der damaligen Forschung. Der MEW-Band 41 erschien 1967, Band 43 im Jahr 1990 (siehe Übersicht hier). In Band 45 sollen u.a. Texte aufgenommen werden, die laut Meinung des Moskauer Instituts für Marxismus-Leninismus 1952 »nicht in Deutschland publiziert werden sollten«. Es ist genau diese Geschichte, die der Karl Dietz Verlag Berlin kritisch aufzuarbeiten (siehe unten – zur Editionsgeschichte des literarischen Nachlasses von Karl Marx und Friedrich Engels vgl. Richard Sperl bei marx200) gedenkt, indem Vorworte und Anmerkungsapparat überarbeitet und Texte neu ediert werden, die aus politischen Gründen nicht zur Veröffentlichung im Rahmen der MEW vorgesehen waren. Das Prinzip der Vollständigkeit bleibt der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) vorbehalten.
Was zeichnet die MEGA2 aus
Auch die Marx-Engels-Gesamtausgabe hat eine bewegte Geschichte. Die Arbeiten an der ersten Edition (MEGA1) wurde unter Stalin abgebrochen, die wichtigsten Mitarbeiter am Marx-Engels-Instituts, das für die historisch-kritische Edition verantwortlich war, wurden entlassen, viele ermordet: unter anderen Dawid Rjasanow, Walter Haenisch, Karl Schmückle, Kurt Nixdorf. Der Staat, der sich wesentlich auf »die Lehren« von Marx und Engels berief, hatte offensichtlich kein Interesse daran, ihre Arbeiten komplett und quellenkritisch zugänglich zu machen. Ganz im Gegenteil, ein kritischer Umgang mit den Quellen wurde brutal unterbunden. Der Marxismus-Leninismus als Staatsdoktrin wirkte sich auch auf die russische Werkausgabe aus, auf der die MEW basieren.
Erst in den 1960er-Jahren wurde das Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe nochmals aufgenommen und bisher noch nicht zu Ende gebracht. Die Editionsprinzipien der MEGA2 unterscheiden sich von denen der MEW. Die Gesamtausgabe strebt eine vollständige und originalgetreue, historisch-kritische Edition der Veröffentlichungen, der nachgelassenen Manuskripte (Entwürfe) und des Briefwechsels von Marx und Engels an. Dies umfasst auch die Darstellung der Textentwicklung vom Manuskript zur Druckfassung sowie zwischen den unterschiedlichen Druckfassungen.
Die MEGA² ist für die Marx-Forschung, für die Edition von Studientexten und für die politische und wissenschaftliche Diskussion von immenser und grundlegender Bedeutung, weil sie die Textgrundlagen erschließt auf dem alles Folgende basiert.
Aber wie die MEGA2 noch immer ein unabgeschlossenes Projekt ist, die ersten Texte nur noch online editiert werden, so ist auch die MEW noch nicht abgeschlossen.
Ein neues Kapitel der Marx-Engels-Werke
Bis 1989 hatten alle MEW-Bände eine Startauflage von etwa 20 000 Exemplaren. Es folgten mehrere Folgeauflagen. Insgesamt wurden etwa drei Millionen MEW-Bände gedruckt.
Im Jahr 2006, zum 50. Geburtstag der MEW, die im Jahr 1956 mit MEW-Band 1 startete, erschien der Band mit einem neuen Vorwort von Rolf Hecker und Richard Sperl. Ein neues Kapital der MEW wurde aufgeschlagen. Alle seitdem vergriffenen Bände werden nicht nur mit einem neuen Vorwort versehen, es werden auch die Anmerkungen und das Personenregister überarbeitet. Inzwischen wurden sieben MEW-Bände überarbeitet (siehe Übersicht hier). Im Jahr 2018 erschien erstmals seit 1990 ein neuer MEW-Band, Band 44.
Die MEW sind bis heute die wichtigste und umfangreichste Studienausgabe der Werke von Marx und Engels, sie wird seit bald 70 Jahren weltweit zitiert. Sie lieferbar zu halten bedeutet, sich (selbst-)kritisch mit der Geschichte dieser Ausgabe auseinanderzusetzen – und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Genau das passiert seit dem Vorwort zum überarbeiteten Band 1.
Dort heißt es:
»Man kann allerdings die MEW nicht angemessen charakterisieren, ohne klarzustellen, dass es sich um eine von einem Parteiinstitut der SED besorgte und vom Parteiverlag publizierte Ausgabe handelt, die auf der zweiten russischen Werkausgabe des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU fußte. Dies bestimmte wesentlich die politisch-ideologische Funktion und Zielsetzung der Edition.«
Mit anderen Worten: Das Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus hat die Arbeit an der deutschen Werkedition aus politischen Gründen behindert. Zwar wurde in der deutschen Ausgabe durchgängig eine korrekte Wiedergabe der Autorentexte sichergestellt (mit der Ausnahme »Die Deutsche Ideologie« in Band 3), die Kommentierung ist jedoch von der »politisch-ideologische[n] Funktion« geprägt – und manche Texte wurden erst gar nicht in die Werkausgabe aufgenommen.
Von Anfang an, d.h. seit 1956, galt für die MEW, heißt es im Vorwort zur Neuausgabe des MEW- Bands 1,
»dass auf eine solide und modernen Ansprüchen genügende Textdarbietung große Sorgfalt verwendet wurde. Die deutschsprachigen Originaltexte wurden textkritisch durchgesehen und Orthografie und Interpunktion entsprechend der vorherrschenden editorischen Verfahrensweise bei Studienausgaben behutsam modernisiert und normiert. Eine Überprüfung der vorhandenen Entzifferung der Handschriften förderte manche verbesserte Lesart zu Tage. Wesentliche Abweichungen der abgedruckten Texte gegenüber anderen Fassungen derselben werden in Fußnoten mitgeteilt. Eine Darstellung der innerhandschriftlichen Textgenese war nicht vorgesehen, jedoch als bedeutsam erachtete Veränderungen in den Manuskripten (vor allem größere Tilgungen) sind ebenfalls in Fußnoten vermerkt. Wenn sich auch, wie im wissenschaftlich editorischen Voranschreiten nahezu unvermeidlich, bei der erneuten kritischen Bearbeitung der Texte für die MEGA2 gegenüber den MEW einzelne Textbesserungen, genauere Entzifferung, Korrekturen von übersehenen Druck- oder Schreibfehler ergeben haben, so bleibt nachdrücklich festzustellen, dass keine politisch-ideologisch motivierte Auslassungen oder Sinnveränderungen in den dargebotenen Texten festzustellen sind.«
Die editorischen Prinzipien und die Sorgfalt, die beim Verlegen der deutschen Werkausgabe an den Tag gelegt wurden, ermöglicht es nicht nur, dass auch heute der Textkorpus der MEW-Bände mit wenigen Einschränkungen noch immer tragfähig ist. Die Edition brachte es auch mit sich, dass die Lektüre der Edition mit der »politisch-ideologische[n] Funktion« in Konflikt geraten konnte, denn wer Marx und Engels in der MEW las, merkte durchaus, dass die ML-Vorworte, aber auch Teile des Anmerkungsapparats ideologisches Geklappere waren. Denn es waren vor allem die Vorworte, »in denen eine aktuelle ideologisch-politische Deutung der Aussagen von Marx und Engels herauszuarbeiten war«. (Vorwort MEW- Band 1 von 2006). Aus diesem Grund werden die Vorworte bei Neuauflagen ersetzt.
Der Anmerkungsapparat der MEW ist differenzierter zu betrachten. Für die Texterschließung wertvolle Sachinformationen schlagen häufig in nicht nachvollziehbare Bewertungen im Sinne des Marxismus-Leninismus um. Ähnliches gilt auch für die Angaben im Personenregister. Was fehlte: Angaben zur Textgeschichte selbst, was einer vom Marxismus-Leninismus angestrebten Enthistorisierung der Schriften von Marx und Engels entgegenkam. Die Texte sollten aktuell und allgemeingültig zugleich sein – Klassiker, die die SED-Herrschaft tagesaktuell legitimieren konnte. Mit dieser Praxis setzt sich der Karl Dietz Verlag spätestens seit 2006 im Rahmen der Überarbeitung und Fortführung der MEW kritisch auseinander, schon weitaus länger im Rahmen des allgemeinen Verlagsprogramms.
Bereits seit 1983 liegt den neuen MEW-Bänden die MEGA² zugrunde. Nachdem 2018 der erste neue MEW-Band nach 1990 erschien, wollen wir mit Band 45 die Werkausgabe abschließen. Sie wird weiterhin lieferbar gehalten. Sobald ein Band nicht mehr lieferbar ist, wird seine Neuausgabe überarbeitet. Schon bald machen wir die Werkausgabe auch digital zugänglich. Es wird eine eMEW geben! Und nein, wir werden nicht einfach PDF-Dateien ins Netz stellen, sondern die Erschließung der Arbeiten von Marx und Engels auf digitale Füße stellen.
Die »blauen Bände« sind eine Institution, mit ihrem eigenständigen, historisch gewachsenen Charakter sind keine grundlegenden Veränderungen bei den bestehenden Bänden sinnvoll. Die MEW-Edition werden wir deshalb mit Bänden der Neuen Studienausgabe ergänzen (was bereits mit der kleinen MEW-Schwester »Das Kapital 1.1–1.5« begann ). Editorisch an die MEW angelehnt, soll diese jedoch flexibler gestaltet sein. So präsentiert der erste Band dieser Neuen Studienausgabe, Engels »Anti-Dühring«, der zum 200. Geburtstag des Autors erschien, die Erstauflage der für die Geschichte des Marxismus bedeutende Schrift zuzüglich der stark veränderten Passagen der Folgeauflagen, um den sich verändernden Charakter des Buch nachvollziehbar zu machen: Von einer polemischen Kampfschrift zu einem »Handbuch jedes klassenbewussten Arbeiters« (Lenin), das wesentlich dazu beitrug, den Marxismus als Weltanschauung zu begründen. Weitere Bände werden zukünftig die MEW ergänzen, helfen, diese zu erschließen, oder bisherige Textdarstellungen in einem kritischen Licht präsentieren. In diesem Sinne schreibt der Karl Dietz Verlag und die Rosa-Luxemburg-Stiftung als Herausgeber die Geschichte der Studienausgabe der Werke von Marx und Engels fort.