Was trieb eine Frau, die dem deutschen Dienstadel und damit den herrschenden Schichten entstammte, in ein Leben mit der Pfandleihe? Wieso floh sie, der die Tür zu preußischen Regierungskreisen weit offenstand, in die Arme eines dauerhaft erfolglosen Wissenschaftlers? Woraus speiste sich die sprichwörtliche Freizügigkeit dieser Frau? Was trieb sie nicht selten sogar in die Verschwendungssucht? Weshalb ertrug sie es, sich von ihrem eigenen Mann mit der Haushälterin betrogen zu sehen? Warum lebte diese Frau manches Jahr ein permanentes Carpe diem mit ständig freier Sicht in den Abgrund? Wann hatte diese Tochter eines Landrates, der in preußischen Diensten stand, sich mit dem prallen Leben infiziert, statt – standesgemäß – den sogenannten preußischen Tugenden zu frönen? Woher nahm diese im Alter von Krankheiten gequälte Frau in den letzten Jahren ihres Lebens die Kraft, die Shakespeare-Renaissance von London nach Deutschland zu tragen? Hatte sie in Shakespeares kraftvollen Frauengestalten ihre eigene Stärke wiedererkannt? Was waren ihre Antriebe? Warum war ausgerechnet sie es, die einem assimilierten Juden half, zum Gegenpart des gekreuzigten Juden zu werden? Beider Namen werden heute oft in einem Atemzug genannt. Ihr eigener Name hingegen ist heute weitgehend vergessen – so wie die Namen der meisten Frauen von Männern, deren Ruf in die nächsten Jahrhunderte weiterhallte. Wer war diese Jenny von Westphalen, verheiratete Frau Dr. Karl Marx?
Jörn Schütrumpf, geb. 1956, ist Historiker und Publizist. Bis 2017 war er Geschäftsführer des Karl Dietz Verlags Berlin und anschließend bis 2022 Leiter der Fokusstelle Rosa Luxemburg der Rosa-Luxemburg-Stiftung.